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Kategorie: Artikel online

Forumtheater als Instrument der Analyse sozialer Strukturen
und als Katalysator in gesellschaftlichen Transformationsprozessen Kirgistans

Matthias Thonhauser (Forumtheater Linz, Art in Progress; Österreich / Kirgistan) [BIO]

Veröffentlicht in TRANS Nr. 17, Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Mai 2010

Seit 2005 finden in Kirgistan Workshops statt, die Methoden des Theaters der Unterdrückten weitervermitteln. Meine Aufgaben umfassen Konzeptentwicklung und Projektkoordination, neben der inhaltlichen Arbeit als Theaterpädagoge zusammen mit Birgit Fritz.

Ausgangspunkt war die Einladung der im Zuge der Umbrüche im März 2005 gegründeten Jugendbewegung KelKel, die diese Methoden nutzen wollten um junge Erwachsene zu motivieren sich am Prozess der für Juli 2005 vorgesehenen Präsidentenwahlen zu beteiligen.

 

Die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Akteuren aus den Bereichen Pädagogik, Kunst, Sozialarbeit und Jugendarbeit ist bis heute zunehmend komplexer geworden, wie an der Veranstaltung Youth and Society in Asia: Creative Paths of Democratization and Development von 2. bis 14. September in dem nahe Bishkek gelegenen Lyzeum 43 stattfand, sichtbar wurde.

Um das Verständnis zu erleichtern, worum es inhaltlich in diesen Projekten geht und um den Titel dieses Vortrags etwas transparenter zu machen, erläutere ich im Folgenden einige mir wesentliche erscheinende Aspekte des Theaters der Unterdrückten.

In über 70 Ländern wird das in den 1970er Jahren in Lateinamerika durch die Arbeit des brasilianischen Theatermachers Augusto Boal entstandene Theater der Unterdrückten eingesetzt und weiterentwickelt. Es ist ein künstlerisches Instrument um soziale und politische Realität zu analysieren und an der Veränderung von gesellschaftlichen Strukturen zu arbeiten, die Menschen der ihnen zustehenden Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten berauben und die konkret in partikulären Situation im Dorf, in einem Stadtteil, bei Amtshandlungen, im Klassenzimmer etc. sichtbar werden.

Der Name selbst  – Theatro do Opprimido, Theatre of the Oppressed – ist schon Statement, weist auf den emanzipatorischen Charakter, dieses Theaters hin.

„Create a dialog instead of monolog!“ ist ein fundamentaler Topos im Theater der Unterdrückten ausgehend von der These, dass Beteiligung an politischer Macht nur dann möglich ist, wenn sich Menschen als handelnde Subjekte erleben und dabei Kommunikation nicht nur in eine Richtung verläuft, sondern ein Austauschprozess ist. Dieser These liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen fähig sind, aus eigenen Kräften für ihre Situation sinnvolle Lösungsstrategien zu entwickeln, in der Lage sind von struktureller Gewalt geprägte gesellschaftliche Gegebenheiten zu verändern und weiterzuentwickeln.

Das im Kontext europäischer Traditionen entstandene bürgerliche Theater, spiegelt und reproduziert gesellschaftliche Verhältnisse, in denen eine Gruppe gestaltungsmächtiger Akteure einer Gruppe von – manchmal vielleicht zustimmend oder kritisch zwischenrufenden – Zuschauern gegenüber sitzen. Die SchauspielerInnen handeln auf der Bühne, während die Zuschauer handeln indem sie das Geschehen auf der Bühne beobachten. Interventionen auf der Bühne, die Situation der Charaktere zu verändern entsprechend dem eigenen Verständnis des Problems, persönlicher Beobachtungen und Erfahrungen sind den ZuschauerInnen nicht erlaubt.

Aus dieser Perspektive verstehe ich Theater als politisch wirksam, weil es Strukturen reproduziert, die Partizipationen an den Gestaltungsmöglichkeiten der Gesellschaft nur sehr eingeschränkt zulassen (sofern man/frau sich and die vorgegebenen Regeln hält).

How create a dialog instate of monolog? Wie kreiere ich im Theaterraum eine Situation in der es für alle Beteiligten möglich ist verschiedenen Rollen einzunehmen und handelnd in das Geschehen einzugreifen, zu agieren anstatt bloß zu reagieren?

Das Theater der Unterdrückten eröffnet einen Diskurs im Theaterraum, in dem die Grenze zwischen Bühne und Publikum durchlässig wird, so dass alle an einem Aufführungsprozess Beteiligten gleichermaßen „Actor“ als auch „Spectator“ sind, zum „Spectactor“ werden. Die Durchlässigkeit des Raums theatralen Handelns ist nicht nur auf diesen Raum selbst bezogen sondern auch auf die, für die Beteiligten relevante soziale und politische Wirklichkeit.

Im sogenannten Forumtheater – der meines Erachtens komplexesten Struktur des Theaters der Unterdrückten – sind alle Beteiligten eingeladen handelnd in das Geschehen der gezeigten Szene einzugreifen, indem sie in die Rolle der Unterdrückten Figur schlüpfen und eigene Handlungsideen erproben. Auf diese Weise werden die vormaligen ZuschauerInnen zu AkteurInnen in einem Geschehen, das im Kontext der jeweiligen gesellschaftlichen Realität erlebte Unterdrückungssituationen sichtbar und die zugrundeliegenden Machtstrukturen transparenter macht. Das Spiel eröffnet einen Spielraum in dem Stellungnahme, Diskussion, Erpoben neuer Handlungsweisen, Analyse von Kommunikation, Sichtweisen und strukturellen Zusammenhängen und deren Neubeurteilung durch theatrales Handeln passiert.

Theater der Unterdrückten ist vielfach Theater im öffentlichen Raum, sei es wie bei den Aufführungen von Jana Sanskriti in Westbengalen einfach durch auf den Boden gelegte Stöcke abgegrenzten runden Platz mitten im Dorf, oder Straßentheateraktionen und Aufführungen am Rathausplatz oder im Sitzungssaal des Rathauses in Graz, in einem Park in Wien, oder in Kirgistan auf einem Platz vor der Dorfschule. Theater wird – wie verschiedenen Volkstheatertraditionen vielfach praktiziert - zu einem öffentlichen Ereignis, für jedermann und jede Frau zugänglich.

Das Interesse nach dem ersten Projekt im Juni 2005 war so nachhaltig, dass für das Jahr 2006 ein Folgeprojekt entwickelt wurde, in dem es insbesondere um die Vermittlung von Forumtheater ging, der komplexesten Struktur innerhalb des Theaters der Unterdrückten. Gegenüber 2005 gab es drei wesentliche Erweiterungen:

  1. die Workshopleitung wurde von einem Zweierteam – ein Mann und eine Frau, Birgit Fritz und mir – wahrgenommen
  2. es gab je einen Workshop von zehn Tagen im Norden (Bishkek) und im Süden (Kyzyl Kia)
  3. Die im Workshop erarbeiteten Szenen wurden an drei Tagen an drei verschiedenen Orten öffentlich aufgeführt.

Eine Gruppe StudentInnen aus dem Workshop in Bishkek veranstaltete im Anschluss in einer Uni in Bishkek ein Forumtheater in dem sie sich mit Korruption in der Universität auseinandersetzte. Außerdem gab es theaterpädagogische Arbeit in einem Frauenprojekt in einer Stadtrandsiedlung von Bishkek und auf einem Jugendcamp am Issik-kul.

Am Workshop in Bishkek nahm auch eine Gruppe SchülerInnen aus dem Lyzeum 43 teil, die in dieser ca. 45 km von Bishkek entfernten Schule an einen Rehabilitationsprogramm für Straßenkinder teilnahmen. Auch eine der Abschlussaufführungen fand dort statt.

Aus dieser Begegnung entwickelte sich letztlich die Idee, für ein längerfristiges Projekt, mehr Leuten Zugang zum Theater der Unterdrückten bietet und auch eine gewisse Kontinuität gewährleistet. Ausschlaggebend für das Interesse insbesondere der Schulleiterin, waren die Beobachtung der Veränderungen an den am Workshop teilnehmenden SchülerInnen, die Erfahrung des Aufführungsprozesses und die Reaktionen der daran beteiligten SchülerInnen.

Es gab also ein Interesse an einer Fortsetzung der Arbeit, das motivierte ein Folgeprojekt zu entwickeln, dessen Ziel die Etablierung eines Theaterpädagogischen Zentrums ist, in dem insbesondere das Theater der Unterdrückten weitervermittelt wird.

Projektpartner in Kirgistan ist das Lyzeum 43 in Jangy Jer (Sokoluk-Region) und in Österreich der Verein Art in Progress (Sitz in Wien). Von 2. bis 14. September gab es eine erste Veranstaltung im Lyzeum 43, in dem dafür extra Räumlichkeiten adaptiert bzw. geschaffen wurden. Entsprechend der Vision, einen Ort zu schaffen, der für den zentralasiatischen Raum Bedeutung haben kann, waren neben kirgisischen auch TeilnehmerInnen aus Tadschikistan, Kasachstan und Pakistan gekommen. In den Workshops wurde PädagogInnen, SozialarbeiterInnen, KünstlerInnen und SchülerInnen des Lyzeums 43 Grundlagen des Theaters der Unterdrückten, insbesondere von Forumtheater, in einer Weise vermittelt, dass sie selbständig in den eigenen sozialen Feldern damit weiterarbeiten können. Jeder Workshop war als Prozess angelegt, in dem sowohl praktisch Methoden, als auch theoretischer Hintergrund vermittelt und nach den für diese Arbeit notwendigen – weil grundlegenden – Wertvorstellungen gefragt wurde.

Bei dieser Veranstaltung waren als ReferentInnen tätig Sanjoy Ganguly von Jana Sanskriti (Indien), Jale Karabekir (Türkei), Julian Boal (Frankreich), sowie aus Österreich Birgit Fritz und ich.

Die Einbindung von ReferntInnen und TeilnehmerInnen unter anderem aus dem asiatischen Raum eröffneten interessante Möglichkeiten des Erfahrungsaustausches und des Wissenstransfers. Eine ursprünglich auf drei Tage anberaumte, internationalen Konferenz mit dem Titel „Youth and Society in Asia: Creative Paths of Democratization and Development“ (1) schloss die Veranstaltung ab. Anliegen war die Erfahrungen aus der pädagogischen Arbeit in Kirgistan und auf Praxiserfahrungen beruhende theoretische Überlegungen zum Theater der Unterdrückten zu diskutieren. Wichtig war letztlich auch die Frage der weiteren Entwicklung des vermittelten theaterpädagogischen Ansatzes. Anforderungen und Erwartungen an ein Theaterpädagogisches Zentrum wurden abschließend formuliert.

Das Projekt, in dessen Rahmen die Veranstaltung stattfand ist bis Herbst 2008 finanziert. Es gibt also Ressourcen die eine Kontinuität der Arbeit ermöglichen.

In dem aktuellen Projekt wird, ebenso wie in den Vorangegangenen eine Form der Theaterarbeit vermittelt, die auf Grundsätzen wie Gleichwertigkeit, Prozessorientiertheit, Partizipation und Dialog basiert. Sie trifft auf vorhandene Erfahrungen politischer und sozialer Veränderungen, Wertvorstellungen, Kommunikationsformen und Partizipationsmodellen und traditionelle und moderne künstlerische Ausdrucksformen.

Die Bedeutung von Begriffen und Theaterpraxis

„Kann man dieses Theater auch anders nennen als ‚Theater der Unterdrückten’?“ ist eine Frage die auch in Kirgistan im Laufe der Arbeit gestellt wurde, zuletzt bei der Konferenz im September, von einer für ihre SchülerInnen sehr engagierte Schuldirektorin.

Deutlich wird in der Anfrage meines Erachtens eine Skepsis, zumindest Vorsicht gegenüber allem „Politischen“. Im Verlauf der bisherigen Arbeit erlebe ich auch eine Tendenz zur Entschärfung des Politischen dieses Theaters, die auch in dieser Frage deutliche zum Ausdruck gebracht wird. Demgegenüber ist Boals Antwort auf die Frage, ob es ein politisches Theater gäbe, einfach. Theater ist Politik. Das ist einerseits in der geschichtlichen Entwicklung des Theaters der Unterdrückten im Brasilien der 1960er Jahre begründet. Zugleich weist die Antwort darauf hin, dass Theater und Kunst im Allgemeinen immer in einem konkreten sozialen und politischen Kontext stattfindet, in diesem wirkt und ihn, in Hinblick auf die Etablierung von Machtstrukturen mit gestaltet.

Doch welchen Klang haben im Theater der Unterdrückten wesentliche, oft starke Begriffe in Kirgistan? Um die Bedeutungen von wichtigen Begriffen in Kirgistan besser zu verstehen und das Theaters der Unterdrückten in Kirgistan im Sinne eines Dialogprozesses weiterzuentwickeln gehe ich auf drei Aspekte ein, die denke ich, auch für die erwähnte Frage eine Rolle spielen:

  1. die politischen Ereignisse und Entwicklungen seit 2005
  2. Einbindung und Abhängigkeiten in sozialen Strukturen und Wertvorstellungen
  3. der Einfluss der Sowjetzeit auf das Verständnis von Bildung und Kunst und die dabei wirksamen methodischen Konzepte und Strukturen

Der Name des Theaters und die in ihm wesentlichen Begriffe weisen auf eine potentielle Gefährlichkeit dieser Theaterform für etablierte Machtstrukturen hin. Eine Workshopgruppe hatte eine Szene über Korruption im Zuge der Landreform erarbeitet. Eingebracht wurde die Hintergrundgeschichte von tadschikischen Teilnehmern. Bei der Entscheidung, welche Szene im Dorf der Schule aufgeführt werden sollte, wurde klar, dass es hier ein ganz ähnliches Problem gibt. Es war zu erwarten, dass manche der in den Konflikt involvierten zur Aufführung kommen würden. Was würde die Szene auslösen und wie wirkt sich das insbesondere auf die Schule aus. Schließlich entschied sich die Gruppe in Einverständnis mit allen Beteiligten die Szene zu zeigen, jedoch klar zu machen, dass die Szene auf Grund eines Vorkommnisses in Tadschikistan entwickelt wurde und wir eine offene Frage an das Publikum hätten. Diese Einleitung der Spielleitung sollte den Leuten aus dem Dorf genug Spielraum geben zu entscheiden, inwieweit sie das Stück mit der eigenen Konfliktsituation identifizieren.

Als Sanjoy Ganguly über die Entwicklung von Jana Sanskriti in Westbengalen berichtete, wurde deutlich, dass sich aus der anfänglichen Theatergruppe eine Bewegung entwickelt hat, als deren Teil sich viele Menschen aus den Dörfern verstehen und die eng mit verschiedenen NGOs zusammenarbeitet. Es wurde auch klar, dass dieser Rückhalt notwendig war, sobald ein Thema öffentlich gemacht wurde, das letztlich im politischen System seine Wurzeln hat. Diese Bewegung wird politisch ernst genommen und ist wohl eine der am nachhaltigst wirksamen gesellschaftsverändernden Theaterbewegungen. Deutlich wurde auch, dass gerade die lange Zeit, die Jana Sanskriti mit einem Dorf zusammenarbeitet in einen Prozess des Erkennens und der Veränderung von, in gewaltvollen Strukturen wurzelnden Problemen führt. Für die oben beschriebene Situation bekam die Frage noch mehr Gewicht, welche Ressourcen zur Verfügung stünden für welchen möglichen Prozess, in welcher Intensität. Viele TeilnehmerInnen insbesondere aus öffentlichen Einrichtungen distanzierten sich von der Möglichkeit das Theater Katalysator einer politischen Bewegung sein könnte. Dafür scheint mir neben der eigenen Abhängigkeit von jenen Personen, deren Verhalten innerhalb bestimmter Strukturen in den Szenen problematisiert wurde, auch eine generelle Skepsis gegenüber politischen Bewegungen ausschlaggebend.

Welchen Einfluss haben die Ereignisse von 2005 und die daran anschießenden Entwicklungen bis heute auf die Möglichkeit Theater als politisches Ereignis und Tun zu Verstehen? Die Revolution vom März 2005 – für viele überraschend, wohl auch erschreckend, für manche die Frühgeburt einer Revolution – war entscheidend für die erste Initiative „Theater der Unterdrückten“ in Kirgistan anzuwenden. Damals schien es einen vorsichtigen Optimismus zu geben, hinsichtlich der Change ein politisches System zu etablieren, das weniger von Klientelismus und Korruption geprägt ist, wie die Regierung unter Präsident Arkaiev. Es gab eine wahrnehmbare Bereitschaft sich politisch über die Interessen der eigenen Bezugsgruppe hinaus zu engagieren. Ein Jahr später hat die Revolution viel von ihrem Charme eingebüßt. Das politische System hat sich nicht verändert, nur die Akteure haben gewechselt. „Die Leute sind kritischer geworden, nehmen nicht mehr so viel hin!“ sagt eine Bekannte.

Bedeutsam für die erwähnte Skepsis gegenüber politischen Bewegungen scheint mir, dass Bewegungen stark personzentriert sind und sich dahinter oft partikulare Interessen einer Familie, eines Clans, eines Dorfes verbergen. Interessant erscheint mir diesbezüglich nach dem Verständnis von Gesellschaft zu fragen, danach zu fragen, welche Segmente der Gesellschaft wofür als relevant erlebt werden. Welche Rolle spielen familiäre, regionale und institutionelle Zugehörigkeiten oder jene zu einem bestimmten Clan für weitreichende politische Entscheidungen von VerantwortungsträgerInnen oder dafür Unrecht zu benennen und sich für die Veränderung einer Situation einzusetzen?

Aus der Zeit der Sowjetunion sind Begriffe, wie Bewegung, Befreiung, Unterdrückung, Revolution etc. schon in bestimmter Weise besetzt oder wecken Erinnerungen. Vielleicht spielt auch das eine Rolle dafür, dass insbesondere von den TeilnehmerInnen heuer, Theater der Unterdrückten viel mehr als pädagogisches Konzept verstanden wurde, denn als künstlerischer Prozess gesellschaftlicher Veränderung.

Bei der Konferenz gab es eine leidenschaftliche Stellungnahme für die Bezeichnung, „Vor dem Workshop habe ich nicht gedacht unterdrückt zu sein, jetzt bin ich unterdrückt!“ brachte eine Teilnehmerin ihre Erfahrung über, durch die Auseinandersetzung mit der eigenen sozialen und politischen Wirklichkeit gewonnenen Erkenntnisse auf den Punkt. In dem Statement zeigt sich auch die Stärke des Theaters der Unterdrückten, im konkreten sichtbar zu machen was es meint und nicht in der abstrakten Diskussion über Begrifflichkeiten stecken zu bleiben. Die in den Szenen dargestellten Situationen machten Unterdrückung auf verschiedenen Ebenen deutlich sichtbar. Kauf von Prüfungszertifikaten auf der Uni, häusliche Gewalt, Frauenhandel, Korruption im Zusammenhang mit der Landreform, Zwangsheirat bzw. –trennung sind nur ein paar Themen zu denen Szenen erarbeitet wurden. Alle diese Themen sind hoch politisch in dem Sinn, als sie sich mit gesellschaftlich etablierten Machtstrukturen auseinandersetzen, bzw. Anlass für eine Auseinandersetzung bieten und zu Fragen z.B. nach für Unrechtssituationen stabilisierenden Faktoren führen.

Eine besondere Herausforderung für das Projekt sind jene Anteile in Kommunikations- und Handlungsmuster, die wesentlich in der Zeit der Sowjetunion geprägt worden sind. Insbesondere in staatlichen Institutionen scheinen diese Anteile eine wichtige Rolle zu spielen. In der bisherigen Arbeit zeigt sich, dass das Aufeinandertreffen von hierarchischen, instruktionsgewohnten Strukturen und einer auf Partizipation und Dialog basierenden prozessorientierten Theaterarbeit einiges an Reibungsfläche beinhaltet.

Kein schriftliches Konzept mit genauem Ablauf vorgelegt und keine klaren Instruktionen zu bekommen, wie mit der Methode weitergearbeitet werden soll hat, viele TeilnehmerInnen verunsichert. Es war nach eigenen Aussagen etwas Neues. Zugleich war es für viele genau der Aspekt, der die Arbeit im Workshop erst interessant machte und ausschlaggebend dafür war, der praktisch erlernten Theaterarbeit Bedeutung beizumessen. Eine Struktur angeboten zu bekommen, in der es möglich war „unsere Geschichten und Erfahrungen“ einzubringen und daraus Szenen zu entwickeln, war für viele eine Erfahrung, die den vermittelten Ansatz pädagogischer Arbeit deutlich von der gewohnten instruktionsgeprägten Seminarerfahrung abhob. Es scheint gerade das Nicht-Instruktive dieser Theaterarbeit das motivierte durchgehend am Workshop teilzunehmen und aufzuführen.

Die Schaffung eines Raums in dem Dialog möglich, ja gefordert ist, ist ein wesendliches Potential des Theaters der Unterdrückten, insbesondere von Forumtheater.  Für die Abschlussperformance beim Workshop letztes Jahr in Kyzylkia waren wir in ein Dorf in den Bergen eingeladen. Nach ca. 11/2 Stunden Fahrt auf der vom Regen ausgewaschenen Straße war die Fahrt zu Ende. Eine Mure hatte die Straße verschüttet. Was tun? Die Gruppe entschied zu Fuß ca. eine Stunde in das Dorf zu gehen. Für die Leute aus dem Dorf keine ungewöhnliche Situation. Für die meisten Jugendlichen der Gruppe eine neue Erfahrung.

Im Dorf wurden wir erwartet. Der Klassenraum in der Schule war gesteckt voll. Die Gruppe zeigte eine Szene über Drogenmissbrauch. Nach etlichen engagierten Einstiegen stand bei der Diskussion am Ende eine ältere Frau auf, bedankte sich für die Aufführung und sagte weiter: Das Problem, das ihr in eurem Theater gezeigt habt, haben wir hier im Dorf nicht. Das ist ein Problem aus der Stadt. Doch hier im Dorf haben wir …“ und sie begann verschiedene Probleme aufzuzählen.

Interessant finde ich bei diesem Ereignis, dass Menschen begonnen haben öffentlich über die Situation in ihrem Dorf zu sprechen. Für den Kontakt war außerdem die Bereitschaft zu dem einstündigen Fußmarsch bedeutsam. Dieser kleine Akt der Solidarität hat erste Brücken gebaut, wie etliche Leute anschießend sagten.

Neben dem Aspekt des Dialogs ist die Geschichte für mich auch ein Beispiel dafür, dass Theater der Unterdrückten bestimmte Werte impliziert, wie z. B. Solidarität. Auch hier steht es vermutlich in einem Spannungsverhältnis zwischen Wertvorstellungen, die Unterdrückung verändern und solchen, die stabilisierend wirken.  Forumtheater provoziert diesbezüglich Fragen. Ist es erstrebenswert, das junge Frauen, die Opfer von Brautraub geworden sind, nichts erwidern, wenn eine ältere Frau erzählt, wie glücklich sie wurde, als sie sich in die Situation fügte?

Forumtheater provoziert Konflikt und macht ihn sichtbar – das ist eine Chance.

Das Interesse am Theater der Unterdrückten ist anhaltend. Ist es genau das was Kirgistan braucht? –wie ein älterer Herr nach einer Aufführung einer Szene zu häuslicher Gewalt letztes Jahr in Kyzyl Kia meinte. Werden in der Analyse von Unterdrückungssituationen die zugrundeliegenden politischen Strukturen zum Thema gemacht? Wie werden sich erste Ideen, dass Jugendliche mittels Forumtheater Vorschläge zur Verbesserung ihrer Lebenssituation kreieren, entwickeln? Welche Partizipationsmöglichkeiten gibt es? Welche Kräfte auf welcher Ebene sind daran interessiert andere an ihrer politischen Macht teilhaben zu lassen?

In den nun folgenden Monaten wird es an Hand der im Rahmen des Theaterpädagogischen Zentrums durchgeführten Arbeit möglich sein, die nachgefragten Entwicklungen zu beobachten.

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