Jedes Jahr am 27. März, initiiert das erste Mal 1961 vom International Theatre Institute (www.iti-worldwide.org); dort findet sich auch eine Liste aller bisherigen Botschafter; laut UNESCO, die diesen Tag unterstützt, wird jedes Jahr eine Persönlichkeit des Theaters eingeladen, Gedanken zu den Themen Theater und Frieden zu formulieren.

 

 "Alle menschlichen Gesellschaften sind in ihrem Alltag „spektakulär“1 und inszenieren zu bestimmten Anlässen „Spektakel“. Gesellschaften sind als Organisationsform „spektakulär“ und sie produzieren „Spektakel“ wie jenes, das Sie sich gerade ansehen, den Alltag.Auch wenn wir uns dessen nicht bewusst werden, sind die Beziehungen der Menschen theatral strukturiert. Der Einsatz von Raum, Körpersprache, Wortwahl, Modulation der Stimme, das Aufeinandertreffen von Ideen und Leidenschaften, alles, was wir auf der Bühne
tun, tun wir auch im Leben: Wir sind Theater.Hochzeiten und Beerdigungen sind „Spektakel“, aber auch die Alltagsrituale, die uns so vertraut sind, dass wir sie nicht mehr bewusst wahrnehmen. Große Pomp- und Prunkveranstaltungen, aber auch der Morgenkaffee, der Austausch eines „guten Morgen“, schüchterne Liebe und wilde Leidenschaft, eine Sitzung des Senats, eine Diplomatenkonferenz – alles ist Theater.

Eine der Hauptfunktionen unserer Kunst besteht darin, die Menschen für diese „Spektakel“ des Alltags zu sensibilisieren, in denen die Akteure zugleich ihre eigenen Zuschauer sind, in denen Bühne und Zuschauerraum eins sind. Wir alle sind Künstler! Indem wir Theater
machen, lernen wir hinzuschauen, das Offensichtlich zu sehen, was normalerweise nicht mehr möglich ist, weil wir nur mehr flüchtig schauen. Was uns vertraut ist wird unsichtbar für uns: Theater wirft Licht auf die Bühne unseres Alltags. Letzten September wurden wir durch eine theatralen Enthüllung überrascht. Wir, die wir dachten in einer sicheren Welt zu leben, trotz der Kriege und Völkermorde, trotz des Massensterbens und der Folterungen, die es zwar gibt, allerdings nur in fernen, wilden Ländern. Wir, die wir in Sicherheit lebten und unser Geld in die Hände angesehener Banken oder ehrbarer Börsenmakler legten, wurden eines Besseren belehrt: dieses Geld existierte gar nicht, es war virtuell, die Fiktion einiger ganz und gar nicht fiktiver Ökonomen, die ihres
Zeichens weder glaubwürdig noch seriös sind. Das alles war schlechtes Theater mit einer düsteren Handlung, in dem sehr wenige Menschen sehr viel gewonnen und sehr viele Menschen alles verloren haben. Politiker wohlhabender Länder hielten geheime Sitzungen ab, wo sie auf magische Lösungen kamen. Und wir, die wir den Entscheidungen dieser Politiker zum Opfer fielen, sitzen immer noch als Zuschauer in den hintersten Reihen des letzten Ranges.
Vor zwanzig Jahren inszenierte ich in Rio de Janeiro "Phaedra" von Jean Racine. Das Bühnenbild war armselig: Kuhhäute am Boden und ringsherum Bambus. Vor jeder Vorstellung pflegte ich meinen Schauspielern zu sagen: „Die Fiktion, die wir Tag für Tag erschaffen ist zu Ende. Wenn ihr durch die Umzäunung aus Bambus geht, dann hat niemand mehr von euch das Recht zu lügen. Theater ist verborgene Wahrheit.“Wenn wir hinter die Kulissen schauen, sehen wir Unterdrücker und Unterdrückte, in jeder Gesellschaft, in jedem Volk, bei den Geschlechtern, in jeder Klasse und Kaste. Wir sehen eine ungerechte, grausame Welt. Wir müssen eine andere erschaffen, denn wir wissen, dass eine andere Welt möglich ist. Es liegt an uns, eine solche Welt mit eigenen Händen zu bauen, indem wir zu Akteuren auf der Bühne und in unserm eigenen Leben werden. Beteiligt euch an dem „Spektakel“, das jetzt beginnt, und sobald ihr nach Hause kommt, spielt mit euren Freunden eure eigenen Stücke und schaut genau auf das, was euch bisher verborgen blieb: das Offensichtliche. Theater ist nicht nur eine Veranstaltung, es ist eine Lebensform! Wir alle sind Schauspieler und Akteure. Bürger zu sein, bedeutet nicht, in einer Gesellschaft
zu leben, es heißt sie zu verändern! 14.02.2009 Augusto Boal (Übersetzung: Armin Staffler / Fachbereich für politisches und soziales Theater im Theater Verband Tirol,
spectACT – Verein für politisches und soziales Theater und Marion Matuella)